Buchtipp

Laufpsychologie. Dem Geheimnis des Laufens auf der Spur.
Dr. Andreas M. Marlovits, 2008, LAS-Verlag :

 

Auszug:

Vom Alltagsnutzen der Vorbereitungszeit auf einen Marathon

Das marathonfreie Laufen hat den großen Vorteil, dass es mehr Freiräume im Alltag lässt. Damit kann man Konflikte, die sich aus dem Laufpensum mit den Liebsten einstellen können, besser abfedern. Man muss ja nicht unbedingt fünfmal pro Woche laufen. Mit dem Vorsatz zum Marathonlaufen ändert sich dieser Spielraum. Damit tritt ein ehrgeiziges Ziel ins Leben eines Läufers. Will man bestehen, muss man sich disziplinieren und ein gewisses Maß an Zwang entwickeln. Dies hört sich für Hedonisten furchtbar an.

Doch die Entschiedenheit und die daraus resultierende Enge des Lebens hat auch ihre positiven Seiten. Viele unserer befragten Läufer berichten daher nicht nur mit Stolz, sondern auch mit Begeisterung von der Vor-Marathon-Zeit. Sie bietet einem zunächst ein klares Ziel. Es ist eine Aufgabe gesetzt und damit hat das Leben eine klare Ausrichtung, auf die hin sich der Alltag gut entwerfen lässt. „ Abends nach der Arbeit war dann klar, heute sind die 16 Kilometer dran“, so eine 36-jährige Verwaltungsangestellte.

Die Entscheidung zum Marathonlaufen verhilft zur Seelenorganisation des Alltags, die ansonsten auch mal schwer fallen kann. Das Schwierige an der Alltagsorganisation ist die Gestaltung von lebbaren Einheiten. Aufstehen, Frühstücken, die Fahrt zur Arbeit, Arbeitsvorgänge, Pausen etc., das sind solche Einheiten. Ein gewöhnlicher Arbeitsalltag gibt bereits einiges vor, worüber wir einerseits klagen, insgeheim aber durchaus froh sind. Was ein durchorganisierter Alltag wert sein kann, merkt man in den ersten Urlaubstagen, wenn einem so nichts Rechtes von der Hand gehen mag. Tausende von Sachen hat man sich vorgenommen und nun kann man sich zu keiner richtig durchringen.

Solche Übergänge sind es, die unseren Alltag besonders unerträglich machen können. Sie sind schwer zu gestalten und auszuhalten. Man merkt das beispielsweise daran, wenn man eine Prüfung, auf die man sich lange vorbereitet hat, endlich hinter sich gebracht hat. Was folgt, ist eine Leere, die sich zunächst nur schwer füllen lässt. Ähnliches zeigt sich im Reiseverhalten vieler Menschen, die sich direkt von der Arbeit auf den Weg zum Urlaubsort machen und sogar stundenlange Staus in Kauf nehmen. Da ist immer was los. Man hat zumindest das Problem umgangen, sich mit unangenehmen Übergang beschäftigen zu müssen, der sich zwischen Arbeitsende und Urlaubsanfang notgedrungen ergibt. Solche Übergänge finden sich aber auch zwischen allen Einheiten des täglichen Lebens. Zwischen Aufstehen und Frühstücken, zwischen dem Frühstücken und dem Weg zur Arbeit, zwischen dem Weg zur Arbeit und dem Arbeiten, zwischen dem Arbeiten und der Mittagspause usw. Besonders stark ist das Übergangserleben am Vorabend nach der Rückkehr von der Arbeit. Wenn man nicht direkt in Aufgaben des Familienlebens eingespannt wird, dann können unerträgliche richtungslose Übergangssituationen entstehen.

Ähnlich wie das Beispiel unserer 28-jährigen Managerin versuchen viele durch das Fernsehen die innere Unruhe, die so ein Übergang mit sich bringt, zu bewältigen. Das gelingt auch oft. Hat man sich nun vorgenommen einen Marathon zu laufen, entstehen diese unangenehmen Übergangsgefühle oft gar nicht, weil man weiß, was als Nächstes ansteht und zu tun ist. Da die meisten Läufer nach der Arbeit ihre Trainingseinheiten absolvieren, wird auf diese Weise die Problematik der Übergangsstelle Alltag- Freizeit entschärft. Auf dem Nachhause-weg ist man ja bereits in Gedanken bei der anstehenden Trainingseinheit. Also nach Hause, raus aus den Klamotten und rein in die Laufsachen und schon kann es losgehen. Alles, was sich dazwischen schiebt, wird als Störung erlebt – egal ob Anrufe, Einladungen, die Familie, anstehende Erledigungen etc. Ein sich auf den Marathon vorbereitender Läufer reagiert auf nichts so gereizt als auf einen unerwartet vor einem Trainingslauf dazwischen-kommender Termin.

Was nun viele Läufer über die Vorbereitungszeit trotz Schinderei, Zwang und Disziplin so positiv sprechen lässt, hängt neben der Hilfe zur Bewältigung von Alltagsübergängen zentral auch mit dem zusammen, was mit jedem Lauf realisiert wird.

Nämlich ein Wechsel aus unserer digitalen Welt mit all ihren Anforderungen in die analoge Qualität des Laufens, in der das Lebenstempo auf das menschliche Maß des einfachen Nacheinanders heruntergeschraubt wird : ein Schritt nach dem anderen und nicht fünf Dinge gleichzeitig. Nur laufen und ganz für sich sein. Für viele unserer Befragten stellt gerade diese Reduktion der Komplexität den entscheidenden Mehrwert des Laufens dar. Um ein anderes Bild zu verwenden: Es ist, als ob man von der digitalen Welt eines CD-Spielers auf das analoge Dahingleiten einer Langspielplatte umschalten und genau darin seinen Rhythmus finden würde. Das trägt kontemplative Züge: eine einfache Tätigkeit wiederholen, nur mit sich und seinem Körper sein, eins mit der Natur und seinen Rhythmus finden.